Musik im Ghetto, das Ghetto in der Musik

Yvonne Pörzgen

Am 2. Oktober 1940 befahlen die Nationalsozialisten allen Jüdinnen und Juden in War-schau und Umgebung, in den „jüdischen Wohnbezirk“ im Zentrum der Stadt zu ziehen. Am 16. November 1940 wurde das Viertel abgeriegelt, das Ghetto geschlossen. In der sogenannten „Großaktion“ 1942 und zu weiteren Terminen wurden die Ghettobewohnerinnen und -bewohner in KZs transportiert, die meisten ins Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurden. Vom 19. April bis zum 16. Mai 1943 widersetzten sich die verbliebenen Ghettoinsassinnen und -insassen der Vernichtung. Nach der Niederschlagung des Auf-stands wurden die verbliebenen Menschen ebenfalls ermordet.

In der Zeit seines Bestehens war das Ghetto ein Ort des Mangels. Es fehlte an Platz, an Nahrung, an Medikamenten. Marek Edelman (1919-2009), einer der Anführer des Ghettoaufstands, betonte aber, was vorhanden war, nämlich die Liebe. In „I była miłość w getcie“ (2009) (dt. „Die Liebe im Ghetto“, 2013) erzählte er, dass das Überleben im Ghetto nur möglich war, wenn Menschen einander unterstützten.
An Edelman anknüpfend kann man feststellen: Es gab auch Musik im Ghetto. Dass Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) im Ghetto lebte und von dort floh, konnte das westdeutsche Fernsehpublikum spätestens seit der ersten Sendung des Literarischen Quartetts 1988 wissen. Darin wurde Der Roman „Początek“ („Die schöne Frau Seidenman“, 1986, dt. 1988) von Andrzej Szczypiorski (1928-2000) besprochen, der das Ghetto als Element des Weltgeschehens einordnet, wofür er in Polen kritisiert, in Deutschland gelobt wurde. Reich-Ranicki war vom Roman begeistert. Seine eigene Ghetto-Biographie sprach er nicht selbst an, Hellmuth Karasek (1934-2015) verwies darauf. Über die Musik im Warschauer Ghetto erzählte Reich-Ranicki später, man habe Beethoven-Violinkonzerte und Mozarts Klarinettenkonzert gehört, auch Ravels und Debussys Harfenmusik. Die Musiker brauchten Geld, alle an-deren ein wenig Ablenkung vom Horror des Ghettos.

Das Ringelblum-Archiv, eine Sammlung von Dokumenten, die Ghettobewohnerinnen und -bewohner zur Dokumentation der Verbrechen angelegt und so versteckt hatten, dass sie nach dem Krieg unter den Trümmern gefunden werden konnten, enthielt den Text des Musicals „Miłość szuka mieszkania“ („Die Liebe sucht eine Wohnung“; Text von Jerzy Jurandot; Originalmusik Iwo Wesby, nicht erhalten), das 1942 im Theater Femina gespielt wurde.
In Liedern, die während und nach dem Krieg gesammelt wurden und so erhalten blieben, setzten sich die Menschen satirisch, bissig, bitter oder verzweifelt mit dem Ghettoleben auseinander, etwa in „Coolies“ (Text Sh. Sheynkinder, Musik Goldberg) mit dem Phänomen, dass sich Juden als Rikschafahrer verdingen, da im Ghetto keine Straßenbahnen fuhren.

 

Eine Häuserzeile des ehemaligen Warschauer Ghettos. Die Ausstellung "I Can Still See Their Faces" der Schauspielerin Golda Tencer zeigt Bilder von im Warschauer Ghetto ermordeten oder deportierten Menschen. (© picture-alliance/dpa)

Innerhalb des Ghettos zum Trost, aus Verzweiflung oder als Fluchtmechanismus genutzt, wurde die (über-)tönende Macht der Musik jenseits der Ghettomauern gegen die Jüdinnen und Juden eingesetzt. In „Campo di Fiori“, einem seiner bekanntesten Gedichte, das 1943 entstand, schrieb der Nobelpreisträger von 1980 Czesław Miłosz (1911-2004):

Ich dachte an Campo di Fiori
In Warschau an einem Abend
Im Frühling vor Karussellen
Bei Klängen munterer Weisen.
Der Schlager dämpfte die Salven
Hinter der Mauer des Ghettos
Und Paare flogen nach oben
Hinauf in den heiteren Himmel.
(dt. von Karl Dedecius)

Der Ghettoaufstand entbrannte in der Woche vor Ostern, das Karussell außerhalb des Ghettos sollte den Warschauerinnen und Warschauern zum Osterfest Unterhaltung bieten. Die Musik – man hat gleich die Töne einer Jahrmarktsorgel im Ohr – übertönt bei Miłosz die Schüsse und Schreie im Ghetto, den Menschen auf dem Karussell wird das Wegsehen und Weghören nahegelegt.

Marek Edelman (1919-2009) Wandmalerei von Dariusz Paczkowski in Warschau-Muranów zum Andenken an Edelman 2013

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erinnerung an den Ghettoaufstand 1943 politisch gewollt, an den Warschauer Aufstand 1944 dagegen durfte im sozialistischen Polen nicht erinnert werden, da dies mit Kritik am Verhalten der sowjetischen Roten Armee verbunden war. Der Kampf gegen die einstigen Warschauer Aufständischen führte zu absurden Situationen wie etwa im Fall von Kazimierz Moczarski (1907-1975). Als Beteiligter am Warschauer Aufstand 1944 wurde er 1949 mehrere Monate in einer Gefängniszelle mit Jürgen Stroop (1895-1952), dem Befehlshaber der SS-, Polizei- und Wehrmachteinheiten und Verantwortlichen für die Niederschlagung des Ghettoaufstands und die Vernichtung des Ghettos, gefangen gehalten. Über diese Zeit verfasste er nach seiner Freilassung 1953 den Bericht „Rozmowy z katem“ („Gespräche mit dem Henker“, 1972-1974, dt. 1978).

Schönbergs Musik galt im sozialistischen Polen als elitär. Es war ein deutliches Signal des Wandels, dass „Ein Überlebender aus Warschau“ am 26. November 1989 in der Philharmonie Krakau aufgeführt wurde. Seither wird die Komposition häufig an Gedenktagen gespielt und ist das musikalische Äquivalent zur Narzisse, die von Edelman als Symbol des Gedenkens an den Aufstand im Warschauer Ghetto etabliert wurde.

Der ursprüngliche Vorschlag von Corinne Chochem, Schönberg solle das Ghetto auf der Grundlage einer Partisanenhymne behandeln, bezog sich auf das Lied „Zog nit keynmol“. Hirsch Glik hatte als Reaktion auf den Aufstand im Warschauer Ghetto den jiddischen Text auf die Melodie des sowjetischen Stücks „Tereks Kosaken-Marschlied“ (Terskaja pochodnaja) geschrieben, das 1936 für den Film „Ich, ein Sohn des arbeitenden Volkes“ (Ja, syn rabotajuščego naroda) komponiert worden war. Statt auf die jiddische Beschwörung von Heldentum zur Melodie, die ursprünglich einen russischsprachigen Aufruf zum Dienst in der Roten Armee begleitete, stützte sich Schönberg schließlich auf das hebräische Gebet Schma Israel.

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